Ein düsteres Herrenhaus. Das Licht flackert, die alten Holzdielen knarzen. Dann plötzlich – ein Kinderlachen aus dem Keller. Alles nur Einbildung, oder treibt hier ein Geist sein Unwesen? Dieses Gefühl von Ungewissheit und ein subtiler Grauen macht Horror aus dem viktorianischen Zeitalter so besonders. Klassische Beispiele sind Dracula von Bram Stoker oder Dr. Jeckyll and Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson.
Aber du musst keine Klassiker hören, um in den morbiden Grusel des Englands im 19. Jahrhundert einzutauchen. Wir stellen dir moderne Horrorliteratur vor, die den viktorianischen Schauder ins Jetzt holt – mit frischen Perspektiven und viel Atmosphäre.
Hier liest du, wo viktorianische Horrorliteratur ihren Ursprung hat, entdeckst, was die Autorinnen und Autoren der Gegenwart das Genre neu erfinden und bekommst Buchempfehlungen, die du unbedingt auf deine Hörliste setzen solltest.
Moralstrenge und heimlichen Sehnsüchte: Was ist „Viktorianismus“?
Ganze 70 Jahre saß die 2022 verstorbene Monarchin Elizabeth II auf dem Thron des britischen Königshauses. Ganz so lange regierte ihre Vorfahrin Victoria mit ihrer 63 Jahre andauernden Amtszeit nicht. Dennoch gilt sie bis heute als eine der bekanntesten und wirkungsmächtigsten britischen Königinnen – nicht ohne Grund wurde die Ära ihrer Regierung nachträglich als „viktorianisches Zeitalter“ bekannt.
Victoria war gerade einmal 18 Jahre alt, als sie 1837, kurz nach dem Tod ihres Vaters Wilhelm IV., zur Königin gekrönt wurde. In den folgenden sechs Jahrzehnten verkörperte Victoria sinnbildlich die charakteristischen Normen und Werte ihrer Zeit. Um diese – und damit auch den Kern der viktorianischen Horrorgeschichten – zu verstehen, ist eine nähere Betrachtung Großbritanniens und des Empires zu Victorias Zeit aufschlussreich.
Die wichtigsten Entwicklungen im viktorianischen Zeitalter kurz und knapp erklärt:
Das British Empire wuchs zu dieser Zeit zur größten Kolonialmacht der Welt heran – Nationalstolz und imperialistische Vorherrschaftsgedanken waren in der Bevölkerung ausgeprägt. Gleichzeitig herrschte Angst vor „dem Fremden“.
Die Industrialisierung veränderte den Alltag. Die Veröffentlichung von Charles Darwins „Die Entstehung der Arten“ im Jahr 1859 steht sinnbildlich für wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Doch mit Dampfmaschinen, Eisenbahnen und Fabriken stiegen Umweltverschmutzung, Smog, Abwasserprobleme und Krankheiten.
Millionen Menschen zogen vom Land in die Städte – so wuchs London zum größten urbanen Zentrum der Welt heran. Kinderarbeit, Wohnungsnot und katastrophale Arbeitsbedingungen gehörten zum Alltag.
Während das Bürgertum reicher wurde, lebte ein großer Teil der Bevölkerung in Armut. Gleichzeitig gab es immer mehr Schulen und immer mehr Menschen konnten – und wollten! – lesen.
Weiterhin prägten strenge Vorstellungen von Geschlechterrollen und Religion das öffentliche Leben. Sexualität wurde tabuisiert. Das Ideal: die Frau als „Engel im Haus“, also als sittsame Ehefrau und Mutter. Auch Königin Victoria verkörperte dieses Bild. Ein Beispiel: Als ihr Ehemann Prinz Albert 1861 starb, trug Victoria jahrzehntelang Schwarz als Zeichen ihrer Trauer. Während jenseits des Palastes viele Frauen begannen, mehr Rechte einzufordern, besonders mit Blick auf Bildung, Eigentum und politische Teilhabe, vertrat Victoria also weiter das Bild der tugendhaften Gattin und Mutter.
Es sind diese Widersprüche, die die viktorianische Gesellschaft ausmachen: der Glaube an Fortschritt und Technik bei gleichzeitiger Angst vor Kontrollverlust und Entfremdung; eine strenge Moral bei gleichzeitiger Faszination für Erotik, Okkultismus, das Verdrängte und Unbekannte. Nach außen galten Disziplin, Selbstkontrolle, Respektabilität, nach innen rumorten Fragen nach Sexualität, Krankheit, Klassenunterschieden und Gewalt. Diese Kontraste sind der Nährboden für viktorianische Horrorliteratur.
Das Unheimliche im Vertrauten: Was ist viktorianische Horrorliteratur?
Geister in modernen Häusern, Vampire in einer Zeit des medizinischen Fortschritts, unterschwellige sexuelle Referenzen, verpackt in ein Korsett der Moral: Viktorianischer Horror verhandelt gesellschaftliche Konfliktthemen indirekt, verpackt in Form von Spuk, Doppelgängern oder Krankheit. Dabei sickert das Unheimliche ins Alltägliche ein – in Londoner Nebelgassen, Salons, Sanatorien, Herrenhäuser und Labore.
Typische Themen sind:
Angst vor der Moderne
... äußert sich in gescheiterten Experimenten und bröckelnden Weltbildern. Das Gefühl, dass der Alltag – so wie man ihn kannte – auseinanderbricht, zeigt sich literarisch in der Darstellung des Unheimlichen im Vertrauten. So wird ein Haus zum Spiegel der Seele, ein Zug zum Omen und ein Nebel zur moralischen Grauzone.
Der koloniale Blick
... kommt in Form einer Faszination für „das Fremde“ zum Ausdruck, zum Beispiel für mystische Artefakte oder Schauplätze wie Pyramiden.
Unterdrücktes Begehren
... zeigt sich in Form von Doppelleben oder gespaltenen Identitäten. Auch Vampire sind ein beliebtes Thema.
Das Spannungsfeld zwischen (Aber)glaube und Aufklärung
... wird literarisch in Form von Spiritualismus, Séancen und Geistererscheinungen präsentiert, die auf nüchterne Aufklärung und Skepsis treffen.
Viktorianische Horrorliteratur unterwandert systematisch die Regeln der Logik – Dracula macht es vor. Die Spannung wächst leise und stetig: Nebel schluckt Geräusche, Schatten verrutschen, eine Stufe knarzt, und plötzlich ist das Zuhause nicht mehr sicher.
Bram Stoker arbeitet in Dracula stark mit Symbolik. So markiert Blut die Grenze zwischen Leben, Lust und Gefahr und verfallene Häuser tragen die Risse in den Persönlichkeiten ihrer Bewohner nach außen.
Ein weiteres Thema viktorianischer Horrorliteratur: Menschen, die aus der Form geraten. Dr. Jekyll und Mr. Hyde führen das beispielhaft vor: ein Körper, zwei Moralwelten.
Typisch für den Viktorianismus ist in Dr. Jekyll und Mr. Hyde auch der Umgang mit Frauenfiguren. Sie sind entweder verletzlich und müssen beschützt werden oder fungieren als Medium und stellen eine Bedrohung dar. Männer hingegen sind Forscher, Ärzte oder Beamte, kurz gesagt: Vertreter der Vernunft, die am Unbeherrschbaren scheitern.
Klassiker der viktorianischen Horrorliteratur
Gothic Novels vs. viktorianische Horrorgeschichten: ein- und dasselbe?
Gothic Novels und viktorianische Horrorromane sind miteinander verwandt, aber nicht identisch. Vielmehr ging das eine aus dem anderen hervor. Die klassische Gothic Novel (spätes 18. bis frühes 19. Jahrhundert) setzt auf übernatürliche Vorkommnisse in mittelalterlichen Burgen, Klöstern und Ruinen, melodramatische Schurken und bedrohte weibliche Charaktere.
Gothic Novels in englischer und deutscher Sprache
Viktorianische Horrorliteratur greift Motive der Gothic Novel auf und entwickelt sie in neue Richtungen weiter. So mischt er Krimi, Gesellschaftsstudie und Psychologie, reflektiert Industrialisierung, Urbanität, Wissenschaftsglauben und Sexualmoral. Stilistisch ist viktorianischer Horror atmosphärisch und symbolreich, aber die Bedrohung ist häufiger psychologisch oder ambivalent statt eindeutig übernatürlich. Gleichzeitig wird der Schrecken in ein zeitgenössisches Umfeld geholt: London, Landhäuser, Labore, Kliniken.
Moderne viktorianische Horrorbücher: Unsere Buchempfehlungen
Auch heutzutage hat viktorianischer Horror nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt. Romane, die jetzt unter diesem Label veröffentlicht werden, folgen mit Blick auf Handlung, Motive und Setting dem Vorbild der Klassiker. Oder sie entwickeln das Genre weiter. So stellen sie zum Beispiel queere Beziehungen, weibliches Begehren oder postkoloniale Perspektiven in den Vordergrund. Oft sind diese Geschichten kein klassischer Horror, sondern beinhalten auch Thriller-Elemente. Entdecke unsere Buchempfehlungen!
England, 1866: Elsie Bainbridge glaubt nach der Hochzeit mit dem reichen Rupert an ein bequemes Leben – doch wenige Wochen später ist sie Witwe und schwanger. Auf dem verfallenen Landsitz The Bridge stößt sie auf misstrauische Bedienstete, die linkische Cousine Sarah und eine verschlossene Tür. Dahinter liegen ein 200 Jahre altes Tagebuch und eine lebensgroße Holzfigur, ein „stiller Gefährte“, dessen Präsenz sich beunruhigend verselbstständigt. Geräusche in der Nacht, Spuren, die nicht da sein dürften, weitere Figuren, die wie aus dem Nichts auftauchen: Während Elsie tiefer in die Familiengeschichte eintaucht, verschieben sich die Grenzen zwischen Realität und Übernatürlichem.
Als moderner viktorianischer Horrorroman funktioniert Die stillen Gefährten deshalb so gut, weil er die verdrängten Themen der Epoche heraufbeschwört: weibliche Autonomie im Korsett der Moral, kollektive Aberglauben im Schatten von Wissenschaft und Fortschritt, das Haus als Spiegel für Trauer und Schuld. Laura Purcell setzt auf Slow Burn statt auf Schockeffekte – der Schrecken entsteht leise, über Atmosphäre und Suggestion. Düster, beklemmend, hypnotisch.
Mara, Tochter betrügerischer Spiritisten, ist mit Séancen und falschen Geistererscheinungen groß geworden – und hat sich geschworen, nie wieder an Spuk zu glauben. Mit ihrem Freund Neil führt sie ein bodenständiges, auf Rationalität basierendes Leben. Bis sie das heruntergekommene Blackwood House kaufen. Hier schlagen Türen von allein auf, Kinder schreien in der Nacht, ein Schaukelstuhl wippt wie von selbst. Als die Vergangenheit des Hauses ans Licht kommt, verwandelt sich Maras Skepsis in Angst: Wenn es keine Geister gibt, wer treibt dann sein Spiel in diesen Wänden?
Geister in Blackwood House von Darcy Coates ist eine Geisterhausgeschichte, die genau jene Obsessionen aufgreift, die schon das viktorianische Zeitalter prägten: Spiritismus, die Lust am Unfassbaren, die Kollision von Aufklärung und Aberglauben. Eine Erzählung wie eine Schlinge, die sich immer mehr zuzieht – mit Räumen, die Erinnerungen speichern und Figuren, die ihren eigenen Schatten nicht entkommen. Fiebrig, klaustrophobisch, gnadenlos.
Jedes Jahr im September blutet das viktorianische Haus in der Hawthorn Street: Wände laufen rot an, Vögel prallen gegen die Fenster, die Flure stöhnen. Margaret hat gelernt, mit dem Spuk zu leben – bis ihr Mann Hal verschwindet. Die Suche führt unweigerlich in den Keller. Dorthin, wo das Haus seine Wahrheiten versteckt. Bald wird klar: Dieses Haus ist kein klassisches Spukhaus, sondern hütet Wahrheiten, die Margaret jahrelang überpinselt hat.
Das Septemberhaus macht ein viktorianisches Anwesen zur Bühne für Mutterschaft und Selbstbehauptung. Das Heim – einst Ideal der Respektabilität – wird zum Gegner, der mit Lakonie, Humor und eiserner Routine herausfordert wird. Mit expliziten Horrorszenen und sardonischem Witz zeigt Carissa Orlando, dass sich sowohl Hausgeister als auch alte Muster nur widerwillig vertreiben lassen. Schwarzhumorig, unheimlich, emanzipatorisch.
Kevin Taylor, Handwerker und Blogger, kauft das marode Haus in der 889 Morgan Road und dokumentiert dessen 30-Tage-Renovierung online. Bis seine Kamera Dinge festhält, die sich nicht erklären lassen: ein Fremder im Bild, Stimmen aus leeren Räumen, Schatten, die sich merkwürdig bewegen. Je tiefer Kevin in die Historie des Gebäudes vordringt, desto deutlicher wird, dass dessen Mauern eine Vergangenheit konservieren, die niemand ungestraft aufstemmt.
In Haus der langen Schatten verlegt Ambrose Ibsen eine klassische Spukhaus-Dramaturgie ins Jetzt: Livestreams statt Logbuch, Baupläne statt Tagebuch – und doch dieselbe alte Kälte in den Wänden. So betrachtet der Autor das Motiv der viktorianischen Hausmythen durch die Linse der Gegenwart, und versieht es mit einem Finale, das alle Erwartungen kippt. Atmosphärisch, nervenzehrend, unbarmherzig.
Daniel braucht Arbeit – da landet ein Brief auf seinem Tisch, in dem ihm ein Job angeboten wird: Hausmeister in Craven Manor, Gehalt inklusive. Vor Ort ist klar, dass hier etwas nicht stimmt. Das Gelände ist überwuchert, das Herrenhaus ist leer, niemand ist da. Trotzdem tauchen wie von Geisterhand neue Anweisungen auf. Im Pub erfährt Daniel vom Fluch der Familie, die Craven Manor erbaut hat – von einer Wahnsinnigen, die ihre Tochter tötete, und einem Geist, der seitdem durch das Haus geht. Daniel hält das für Aberglauben, doch warum wurde er herbestellt – und was verbirgt das alte Gemäuer wirklich?
Als viktorianisch gefärbte Geisterhausgeschichte setzt Es spukt in Craven Manor auf klassische Zutaten: das Herrenhaus als Moral-Labyrinth, ein Familienfluch als Folge verdrängter Vergangenheit. Darcy Coates erzählt geradlinig, setzt auf Atmosphäre und die wohl dosierte Einbindung mysteriöser Erscheinungen – ideal für alle, die „Wohlfühlgrusel“ mit altenglischem Flair mögen und eine saubere Auflösung wollen. Stimmungsvoll, geheimnisreich, sanft-unheimlich.
Suffolk, 1913: Im Moor von Wake’s End findet man Hausherr Edmund Stearne neben einer grausam zugerichteten Leiche. „Ich war es, aber ich habe nichts falsch gemacht“, sagt er – und verstummt. Seine Tochter Maud, einsam aufgewachsen unter dem tyrannischen Vater, hat heimlich seine Tagebücher gelesen und weiß mehr, als sie zugibt. Zwischen Pfarrhaus, Dorfgerüchten und den dunklen Wassern des Moors schält sich langsam die Wahrheit heraus – eine Geschichte von Schuld, Aberglauben und dem, was Familien über Generationen verschweigen.
Michelle Paver knüpft mit Teufelsnacht an die Tradition der viktorianischen Horrorliteratur an – verbotene Notizbücher, kirchlicher Eifer und Volksglaube spielen hier eine wichtige Rolle. Statt einem Blutrausch erschreckt hier der leise Druck einer Gesellschaft, die Mädchen klein hält und Männer besessen macht; das Moor wird zur Bühne für Moral und Wahn. Subtil, unheilvoll, vielschichtig.
John Sackville schreibt in einer Gefängniszelle sein letztes Zeugnis: Sein Liebhaber ist tot, in den Ecken kriechen Schatten. Ein Hunger, der nicht menschlich ist, nagt an ihm. Seine Beichte beinhaltet Erzählungen von schottischen Steinkreisen und eisigen Pässen in Tibet, über alte Kulte, fremdartige Wesen und eine Liebe, die beide Männer in einen Strudel zieht, der erst endet, als sie den dunkelsten Punkt der eigenen Seele erreicht haben.
Geständnisschrift statt Tagebuchroman, Geheimgesellschaften, okkulte Wissenschaft und der koloniale Blick: The Black Hunger fühlt sich an wie ein moderner, queerer Cousin der viktorianischen Horrorliteratur. Nicholas Pullen zeigt, wie aus einem „Hunger nach Erkenntnis“ eine furchtbare Triebfeder werden kann. Opulent, schaurig, visionär.
Moderner viktorianischer Horror: Bei Audible entdecken
Ganz gleich, ob Klassiker oder moderne Neuinterpretation: Viktorianische Schauergeschichten leben vom Spannungsfeld zwischen Vernunft und Aberglaube, Moderne und Tradition. Sie machen das Unheimliche im Alltag erfahrbar und verarbeiten psychologische und gesellschaftliche Themen. Bei Audible entdeckst du die ganze Welt des Horrors. Falls du Audible noch nicht ausprobiert hast: Im Probemonat streamst du unbegrenzt Tausende von Hörbüchern, Hörspielen und Original Podcasts. Zusätzlich erhältst du einen kostenlosen Titel, den du für immer behalten kannst.